Stille
Ich liebe es, Menschen zu betrachten. Beim Blick in ein Gesicht frage ich mich, welche Seele steckt dahinter? Durch die Beschäftigung mit der menschlichen Physiognomie versuche ich mir das Leben bewusster zu machen. Ein starker Forscherdrang treibt mich an, der Wunsch zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Bei jeder Skulptur, die ich forme, gibt es ein Modell: Ein Gesicht, eine Figur, eine Haltung, die mich inspiriert.
Mein innerer Antrieb ist mein Wunsch nach Allgemeingültigkeit und Schönheit. Einen ruhigen allgemeingültigen Ausdruck herzustellen, und die Schönheit der menschlichen Physiognomie zu würdigen. Für mich ist Schönheit sichtbar gemachte Liebe. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit diesen Themen und versuche mich mit jeder Skulptur, die ich forme , diesem Ideal anzunäheren. Zunächst will ich möglichst nahe an das Modell herankommen. Wenn ich beginne, frage ich mich jedes Mal, wie ich das eigentlich hinbekommen soll und wie das funktioniert. Langsam nähere ich mich und fühle mich dabei wie ein tastender Forscher. Durch das langsame Entstehen der Skulptur, die durch die Technik des schichtweisen Aufbauens einen längeren Arbeitsprozess erfordert, entsteht eine Ruhe, eine Stille. Einerseits gebe ich diese vor, andererseits strahlt sie auf mich zurück. Ich komme immer mehr in die Stille, und je stiller es wird, desto mehr höre ich die Geräusche beim Arbeiten. Und meine innere Stimme wird klarer und hörbarer. Manchmal höre ich dann so etwas wie „die Augen müssen geschlossen werden“ oder „das Kleid grün malen“ Wenn ich Glück habe, gibt es die Momente der vollkommenen Stille, in denen ich das Gefühl habe, mit der Figur, der umgebenden Welt eins zu werden und so einen kurzen Einblick ins Universum zu bekommen. Ich forme die Skulptur, und gleichzeitig kommt sie mir entgegen. In diesem Moment löse ich mich von dem Ausgangsmodell und bin gespannt, wer mir da begegnet. Das ist der schönste Moment, der Moment, in dem ich mich Ganz fühle.
Annette Meincke-Nagy
September 2017